Ein Gottesdienst, den wir eigentlich nicht halten wollten. Im Januar 2024 wurde die Forums-Studie über den sexuellen Missbrauch in der Evangelischen Kirche veröffentlicht (Sie können die Studie hier downloaden)

 

Und dann... eine seltsame Stille. Weder hat unsere Kirche wirklich angemessen darauf reagiert, noch gab es einen Aufschrei in der Bevölkerung. So bitter die Schuld ist, die wir als Institution jetzt tragen müssen - Schweigen ist für die Kulturgottesdienste keine Option.

 

Am 25.Mai um 19.30 Uhr in der Martin Luther Kirche zu Hoya.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Predigt im Kulturgottesdienst „Schuld“ am 25.5.2024 in Hoya

 

 

 

Liebe Gemeinde,

 

„Anfang der 50er Jahre ist dann der Hof abgebrannt“. Ein Satz in einem Beerdigungsgespräch vor wenigen Jahren in Elsdorf. Irgendwas hat mir gesagt: „Hak da mal nach“.

 

Der Pastor hätte damals Kriegswaisen an die Höfe vermittelt. Und eine hätte den Hof angezündet.

 

 

 

Warum zündet eine Magd den Hof an, der sie aufgenommen hat? Mein Großvater war zu dieser Zeit Polizist in dem Dorf und er hat seine Erinnerungen an seine Dienstzeit aufgeschrieben. Und in seinen Aufzeichnungen habe ich diesen Pastor wiedergefunden. Nicht den Fall mit dem abgebrannten Hof. Sondern einen anderen, in dem einer der Bauern, denen der Pastor eine Kriegswaise vermittelt hatte, diese geschwängert hat. Als Bußleistung dafür hätte – so die Aufzeichnungen meines Großvaters -  der Pastor dem Bauern auferlegt, die Renovierung des Kirchturms zu zahlen. Ob der Pastor an Missbrauch beteiligt war? – ich habe nur mein Bauchgefühl, die nicht eindeutigen Aufzeichnungen meines Großvaters und ein Telefonat mit einem Pastor, der 10 Jahre in der Gemeinde Dienst getan hat? Als ich dann anfing im Dorf zu fragen und zu recherchieren, bin ich auf eine Mauer des Schweigens gestoßen.

 

Und dann? Dann habe ich nichts weiter getan.

 

Fast 70 Jahre nach den Vorfällen, viele Jahre nach dem Tod des Pastoren und ohne einen Beweis oder Zeugen. Nur mein Bauchgefühl und kryptische Hinweise. Ich habe nichts weiter unternommen.

 

Dann wurde vor drei Jahren die Forumsstudie angekündigt. Meine Tätigkeit in jener Gemeinde lag da schon Jahre zurück. Aber auch zu diesem Zeitpunkt habe ich es nicht gemeldet.

 

Jetzt erst, anlässlich der Vorbereitungen auf heute Abend, jetzt erst habe ich mich telefonisch bei der Aufarbeitungsstelle der Landeskirche gemeldet.

 

 

 

Seit Tagen frage ich mich, ob ich mit meinem Nichthandeln auch zu den Vertuschern gehöre?

 

 

 

Anfang der 90er Jahre war ich Jugendlicher in der Kirchengemeinde. Einer der ehrenamtlichen Betreuer, er war Anfang 20, war, zumindest aus heutiger Sicht, grenzüberschreitend. Keine sexuelle Gewalt, nicht justiziables. Wenn ich versuche, das mit meiner damaligen Wahrnehmung auszudrücken, dann hätte ich wohl gesagt: „das war mir irgendwie alles ein bisschen zu schwul“.

 

Ich habe vergangenen Monat mit anderen Betreuern der damaligen Zeit gesprochen und auch von denen war die Wahrnehmung ähnlich.

 

Als mein Vater, der damals Pastor war, eine Begebenheit selbst beobachtet hatte, hat er den ehrenamtlichen Betreuer konfrontiert und rausgesetzt.

 

Aber es gab keine schriftliche Notiz darüber, keine andere kirchliche Stelle wurde informiert.

 

Ganz frühes Handeln, so wie man es sich nur wünschen kann. Aber kein Handeln, das weiteres verhindert hätte, wenn der Ehrenamtliche an anderer Stelle weitergemacht hätte und es nicht mehr innerhalb einer solchen Grauzone geblieben wäre.

 

Muss ich meinem Vater jetzt ein Kompliment machen für seinen wachsamen Blick und sein schnelles Handeln? Oder muss ich ihm aus heutiger Sicht vorwerfen, dass er nicht weiter als seine eigene Gemeinde gedacht hat?

 

 

 

2012 gab es Gerüchte gegen mich selbst. Bösartig und gezielt gestreut um mir zu schaden in einem innergemeindlichen Konflikt. Ich habe mich dann an die Vorgabe der Landeskirche zur Meldekette gehalten, die schon damals sehr deutlich und klar formuliert war und habe – wie vorgegeben - den Superintendenten von Walsrode informiert, dass es diese Gerüchte gäbe. „Davon habe er auch schon gehört und ich solle das mal nicht so ernst nehmen“, war die Antwort, die ich erhielt.

 

Da der Superintendent nicht bereit war, sich an die Meldekette zu halten, habe ich die Personaldezernentin angerufen. Die kannte mich aus der Ausbildung und wusste von der Situation in der Gemeinde. Das hat ihr ausgereicht, dass sie die Gerüchte als das genommen hat, was sie ja auch waren: Gerüchte.

 

Aber kann das reichen? Dass man jemanden meint zu kennen und sich eine solche Tat bei dem einfach nicht vorstellen kann?

 

 

 

 

 

 

 

Liebe Gemeinde,

 

das sind die drei Situationen, in denen ich dem Thema in meinem Leben und meiner Dienstzeit begegnet bin. Alle drei nicht so, wie es aus heutiger Sicht hätte laufen müssen.

 

 

 

Zwei Aspekte kommen heute nur am Rande zur Sprache. Ich werde wenig über die Betroffenen sprechen. Und wenn ich ehrlich bin, dann liegt das daran, dass ich selbst Vater bin und ich es nicht geschafft habe, die ekelhaften Bilder aus meinem Hirn zu verbannen, wenn ich die Berichte über die Taten sexueller Gewalt lesen musste. In meiner Vorstellung bekam jede Betroffene das Gesicht einer meiner Töchter.

 

Und ich fühle mich auch nicht kompetent, heute über die Opfer zu reden. Nennen sie es Vorsicht oder Feigheit, aber wenn jemand heute unter uns sein sollte, der selbst ein solches Martyrium erleiden musste, dann fehlt mir schlicht und einfach die Erfahrung und das Wissen, wie ich eine Re-Traumatisierung durch meine Predigt vermeiden kann.

 

 

 

Ich werde auch wenig zu den Tätern sagen. Denn für die sollten vor allem die staatlichen Strafverfolgungsbehörden zuständig sein. Denn ein Teil der Schuld, die sich unsere Kirche aufgeladen hat, liegt darin begründet, dass wir meinten, wir könnten das schon irgendwie unter uns regeln.

 

 

 

Ich möchte mich heute auf das Versagen unserer Institution konzentrieren.

 

Ich möchte unkonkret beginnen. Bei der Liedauswahl für heute. Alles Hits, jedes, soweit ich weiß, in der Hitparade gewesen. Bis auf eines habe ich jedes Lied im vergangenen Monat im Radio gehört…

 

Und jedes dieser Lieder besingt Sex mit Minderjährigen („17 Jahr blondes Haar“ – Udo Jürgens; „Nina“ – Udo Lindenberg; „Sweet little sixteen“ – Chuck Berry; „Es war Sommer“ – Peter Maffay; „Mit 17 hat man noch Träume“ – Peggy March)

 

 

 

Überlegen sie kurz, wieviel der Lieder heute sie auswendig mitsingen könnten. Welches der Lieder bei ihrer silbernen Hochzeit auf dem Plattenteller lag.

 

 

 

Wenn man die Ohren aufmacht, dann begegnet einem eine ganz positive Sicht auf sexuellen Missbrauch Minderjähriger. Haben sie jemals das Radio deswegen ausgeschaltet?

 

 

 

Aber nur weil das in den Hitparaden war, entschuldigt keinen Täter und keinen, der vertuscht hat.

 

 

 

Denn das ist die zweite Ebene. Das Vertuschen und nicht wahrhabenwollen in unseren Gemeinden. Ich habe Ihnen von der Mauer des Schweigens in Elsdorf erzählt.

 

„So etwas passiert in unserem Dorf nicht.“

 

 

 

Bis heute hat niemand in Elsdorf diese Mauer des Schweigens durchbrochen. Als ob es ansteckend sei. Als würde sexueller Missbrauch in meinem Umfeld auf mich zurückfallen, wenn ich nur davon rede.

 

Ich möchte Sie bitten, einmal für sich durchzudenken, was passiert wäre, wenn sie ihren Nachbarn angezeigt hätten? Oder vielleicht sogar jemand von den Höhergestellten im Dorfe. Den reichsten Bauern oder den Vorsitzenden des Schützenvereins oder den Pastor…

 

Die Angst und auch die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass man dann als Nestbeschmutzer dasteht.

 

Oder sie sind mit dem Täter befreundet, verwandt oder Arbeitskollege. Können sie sich eine solche Tat bei dem überhaupt vorstellen? Und was tun sie dessen Frau und Kinder an, wenn sie den anzeigen. Die können doch nichts dafür…

 

 

 

Den Preis für Ihre soziale Sicherheit im Dorf bezahlt dann eine Kinderseele.

 

Nicht wenige der Taten sind so nie weitergeleitet worden. Weder an die Polizei, noch an eine kirchliche Stelle.

 

 

 

Das ist der erste Flaschenhals auf den Betroffene stoßen.

 

 

 

Der zweite Flaschenhals sind die kirchlichen Vertreter auf Gemeindeebene.

 

Sehr eindrücklich beschreibt eine Betroffene im Fall Oesede, wie sie sich nach einer Tat an eine Ehrenamtliche gewandt hat.

 

Ich zitiere aus der Oesedestudie:

 

„Der ehrenamtlichen Betreuerin schien erkennbar der Gedanke, dass eine kirchliche Autoritäts- und Vertrauensperson einem Kind sexualisierte Gewalt zugefügt haben könnte, unvorstellbar bzw. nicht sagbar und die Gefährdung der Reputation der beschuldigten Person und damit der Institution Kirche so erheblich, dass sie zu dem einzigen ihr zur Verfügung stehenden Mittel griff, Schaden von G. und der Kirche abzuwenden. Ohne jede inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Hilferuf zog sie sich auf die keinesfalls naheliegende Auffassung zurück, das 11- oder 12-jährige Kind sei nicht glaubwürdig, es habe sich die sexualisierte Gewalt des Diakons ausgedacht. Gleichzeitig bedrohte sie Lisa Meyer, um zu verhindern, dass sie sich anderen gegenüber erneut öffnet. Die Betreuerin hat damit das an sie herangetragene Wissen nicht nur nicht dokumentiert, wenn es auch nur durch die mündliche Weitergabe an andere gewesen wäre, sondern aktiv vertuscht“.

 

 

 

Es ist jetzt nicht mehr die Ebene eines einfachen Gemeindemitgliedes. Eine Ehrenamtliche wird von der Kirche betraut mit der Arbeit. Und sie hat ganz von sich aus entschieden zu vertuschen.

 

 

 

Ich bleibe beim Fall Oesede. Lisa Meyer – das ist übrigens ein Pseudonym – blieb nicht die einzige Betroffene. Eltern anderer Kinder meldeten sich beim Pastor der Gemeinde und berichteten ihm von Erzählungen ihrer Töchter.

 

Es gibt keine Dokumentation dieser Gespräche. Erst durch langes Forschen fand sich in einer „vertraulichen Personalakte“ des Lutherstifts Falkenburg, an dem der Diakon seine Ausbildung machte, minimale Erwähnungen, die ohne das Wissen um die Geschichte völlig unverständlich sind.

 

 

 

Mehr als zwei Jahre nach dem Vergehen an Lisa Meyer und Monate nachdem dem Ortspastor durch Eltern weitere Fälle bekanntgeworden sind, gesteht der Pastor „den Beginn der kritischen Situation“. Denn da räumt der Diakon „Berührungen“ ein, die aber „nicht der sexuellen Stimulation“ gedient hätten. Eine Woche später zieht der Diakon dieses Geständnis dem jetzt erst eingeschalteten Superintendenten gegenüber zurück, mit der Begründung, diese Aussage sei unter Druck entstanden.

 

Dann eine mehrwöchige Pause, weil der Diakon mit Jugendlichen auf eine Israelfahrt ging.

 

 

 

Wohl auf Veranlassung des Pastoren besucht der Diakon einen Psychoanalytiker.

 

Damit hat der Pastor dann die Verantwortung abgetreten an einen Therapeuten. Es geht damit dann auch nicht mehr um Schuld, sondern um Krankheit

 

Die Antwort des Analytikers nach einem Gespräch an den Kirchenvorstand:

 

„auf Wunsch des Kirchenvorstandes der ev. Luth. Kirchengemeinde Oesede hat sich Herr G. am 27. Januar 1977 bei mir vorgestellt. Es wurde ein beratendes Gespräch geführt. Der Unterzeichnete ist dabei zu der Auffassung gelangt, dass in der gegenwärtigen Situation von einem psychologischen Gutachten keine Klärung hinsichtlich einer festen Anstellung, die als zur Debatte stehend beschrieben wurde, zu erwarten ist.“

 

 

 

Ich weiß nicht wie sie das hören? Aber da ist kein Wort über betroffene Kinder. Es geht nur darum, ob der Diakon seine Stelle behalten kann.

 

Es folgen weitere Gespräche von Eltern betroffener Kinder mit dem Pastor im Februar 1977. Darüber gibt es eine kurze Gesprächsnotiz die mit dem Satz endet: „Ich sage zunächst niemanden etwas von dieser Information

 

In einem anderen Gespräch mit einer Mutter einer Betroffenen soll der Pastor aufgefordert haben, sie solle jetzt nichts sagen, weil ja eine Jugendfahrt anstehe.

 

 

 

Ungefähr aus der gleichen Zeit findet sich ein Aktenvermerk im Lutherstift Falkenburg: Der Diakon solle sein Mutterbild bearbeiten und es wird zu einer Psychotherapie bei einer weiblichen Therapeutin geraten.

 

 

 

Ende Juni 1977, drei Jahre nachdem sich Lisa Meyer erfolglos an die Betreuerin gewandt hat, wird der Diakon entlassen. Auch der Superintendent fand, dass ein Stellenwechsel „günstiger sei“. Die Auflösung des Beschäftigungsverhältnis steht ohne weitere Begründung in den Akten. Doch es scheinen Bemühungen gemacht worden zu sein, dem Diakon eine neue Stelle in Österreich zu organisieren.

 

 

 

An keiner Stelle findet sich ein Anhaltspunkt, dass das Landeskirchenamt informiert worden ist.

 

 

 

Der nun entlassene Diakon engagierte sich in den Folgejahren im Sportverein und beging dort weitere Taten.

 

 

 

Hätte die Ehrenamtliche reagiert auf den Hilferuf der ersten Betroffenen, wäre 6 weiteren Kindern in der Gemeinde dasselbe Schicksal erspart geblieben.

 

Wenn der Kirchenvorstand, der Pastor und der Superintendent adäquat gehandelt hätten, wären wenigstens die mindestens drei weiteren Betroffenen im Sportverein geschützt geblieben.

 

 

 

Was bleibt ist die Wahrnehmung, dass es eigentlich zu keinem Moment um die Kinder ging, sondern einzig und allein um den Schutz des Täters und der eigenen Institution.

 

Was ich nicht verstehe, ist, dass von den Eltern zu keinem Zeitpunkt die Polizei eingeschaltet wurde.

 

 

 

Ein Sprung von über drei Jahrzehnten. Und damit kommen wir zur nächsten Ebene die versagt hat.

 

2010 wendet sich Lisa Meyer an die Verantwortlichen in der Landeskirche.

 

Die Reaktion: Man wies sie darauf hin, dass die Taten mittlerweile verjährt seien. Man hat ihr zwar therapeutische Hilfe angeboten

 

Auf die ab dem Jahr 2012 bestehende Möglichkeit der Antragstellung auf Anerkennung des Leids habe die Landeskirche Hannovers sie auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht aufmerksam gemacht.

 

 

 

Jetzt erst wendet sich Lisa Meyer an die Öffentlichkeit und drängt auf Aufarbeitung. Und zwar sowohl der damaligen Geschehnisse als auch des Umgangs der Verantwortungsträger*innen der Landeskirche mit der von ihr erfahrenen sexualisierten Gewalt.

 

 

 

Doch erst im Mai 2021 beschließt der Kirchenvorstand von Oesede eine externe und wissenschaftlich-qualifizierte Kommission mit der Aufarbeitung zu betrauen.

 

Diesen Bericht können sie nachlesen, ich habe ihnen den Link auf den Zetteln abgedruckt.

 

In diesem Bericht sollten auch mögliches Fehlverhalten und mögliche Versäumnisse der zuständigen kirchlichen Verantwortlichen seit dem Erstkontakt der Betroffenen mit der Landeskirche im Jahre 2010 untersucht und gegebenenfalls dienstrechtliche Konsequenzen geprüft werden

 

 

 

Und damit kommen wir zum letzten Flaschenhals. Dem Landeskirchenamt und dem Bischof.

 

2010 hat sich die Betroffene von Oesede an das Landeskirchenamt gewandt.

 

Und nach der Betreuerin, die sie damals zum Schweigen gebracht hatte, nach Kirchenvorstand, Ortspastor und Superintendent die nicht oder vor allem im Interesse des Täters und zum Schutz der eigenen Institution gehandelt haben, muss sie wieder die gleiche Erfahrung machen.

 

Die Oesede Studie benennt dies ganz klar als „Vertuschung und Verschleppung“.

 

 

 

Weder im Jahr 2010 noch im Jahr 2020 wurde vom Landeskirchenamt der Kirchenkreis oder die Kirchengemeinde Oesede informiert.

 

Begründet wurde dieses Nicht-Handeln von Seiten der Funktionsträger*innen des LKA damit, sie hätten sich nicht legitimiert oder veranlasst gesehen, die sexualisierte Gewalt dem Kirchenvorstand zu melden, da die Tat im Jahr 2010 bereits juristisch verjährt gewesen sei.

 

 

 

Die für die Informationsweitergabe Verantwortliche stand in der Kritik. In einem Interview äußert sie sich folgendermaßen:

 

Ich hab dann gefragt, ob ich den Superintendenten des Kirchenkreises Oesede und den Pastor der Gemeinde in Oesede benachrichtigen soll. Das Landeskirchenamt sagte mir, tu das jetzt bitte nicht. Wir ziehen den Fall an uns und machen weiter.“ An anderer Stelle ergänzt diese Person dazu, von der zuständigen Funktionsträger*in im LKA sei ihr gesagt worden, sie solle die Aufgabe übernehmen, den „seelsorgerlich-beratenden oder den Kontakt-suchenden“ Bereich in Bezug auf die Betroffene übernehmen. Um alles andere würde sich das LKA kümmern: „Dafür bist du zuständig. Aber für alle dienstrechtlichen, arbeitsrechtlichen, strafrechtlichen Folgen der Geschichte, für alles, was juristisch zu klären ist, sind wir zuständig. Das war eine deutliche Ansage einer Arbeitsteilung, die mich auch entlastet hat. Also ich hab’s nicht delegiert, sondern er hat es an sich gezogen.“

 

 

 

Warum so oft die Aufarbeitung nicht funktionierte, wird in der Forum-Studie mit dem Wort „Verantwortungsdiffussion“ benannt. Die Unklarheit, wer denn eigentlich zuständig ist – so wird das Wort zumeist verstanden. Aber es heißt nicht Zuständigkeitsdiffussion, sondern Verantwortungsdiffussion.

 

Wäre es nur eine Zuständigkeitsdiffussion, dann könnte man vielleicht von einer Gurkentruppe sprechen. Von Leuten, die schlicht und einfach den eigenen Laden nicht im Griff haben. Von einer Unfähigkeit im Amt.

 

Und auch dieser Vorwurf ist wohl gerechtfertigt.

 

 

 

Aber Verantwortungsdiffussion ist mehr. Denn darin steckt auch die Frage, wenn ich es salopp formulieren darf: Wessen Kopf müsste denn eigentlich rollen, wenn die Verantwortung nicht übernommen wurde?

 

 

 

Und jetzt könnte ich die sexualisierte Gewalt als Thema vernachlässigen, denn es ist ein grundlegendes Problem unserer Kirche. Alle größeren Entscheidungen werden im Kolleg getroffen. Und damit kann sich jeder hinter den anderen verstecken.

 

 

 

Und was auch zu beobachten ist, dass im Landeskirchenamt ein Problem vor allem aus Sicht des Landeskirchenamtes betrachtet wird. Und die Lösung kann mit dieser Sicht nur in eine Richtung laufen, nämlich, dass das Landeskirchenamt mit allen Mitteln wieder ihre Ordnung haben will. Und Ordnung um jeden Preis nimmt nicht Rücksicht auf einzelne Menschen und sie schert sich nicht um Gerechtigkeit. Anstatt einer Behörde, die den Gemeinden Arbeit und Verwaltung abnimmt, scheint sich das Landeskirchenamt als Selbstzweck zu sehen.

 

Und wie das bei Leitungsbehörden schnell geschehen kann: Sie werden nicht kontrolliert. Es gibt keine wirksame Instanz, vor denen sich das Landeskirchenamt rechtfertigen müsste. Offiziell wäre das wohl die Synode, aber versuchen sie einmal ihren Synodalvertreter zu erreichen. Den Namen können sie auf der Homepage der Landeskirche finden. Aber keine Telefonnummer, keine Adresse und keinen E-Mailkontakt. Stattdessen soll man sich an das Synodalbüro wenden. Und da haben wir einen nächsten Flaschenhals, denn welche Informationen dann an die einzelnen Synodalen weitergegeben werden und welche nicht, ist für Außenstehende wie für die Synodalen nicht ersichtlich und nicht nachprüfbar.

 

 

 

Und dann kommt ein Fall wie Oesede. Und dafür gibt es keine gute Lösung. Und es gibt keine Lösung im Sinne des Landeskirchenamtes, die die eigentliche Aufgabe und den Schutz des Rufes der Institution in Einklang bringen kann.

 

Eines kann ich nachvollziehen an der Verantwortungsdiffussion: Niemand übernimmt das gerne. Weder eine Aufgabe, die nicht befriedigend gelöst werden kann, noch beschäftigt sich niemand freiwillig mit einem Thema wie Kindesmissbrauch. Das tue ich auch nicht. Und ich wäre sehr froh gewesen, wenn irgendjemand anders diesen Gottesdienst gehalten und ich dann nicht gemusst hätte.  

 

 

 

Am 25. Januar, heute vor 4 Monaten, wurde die Forum-studie veröffentlicht, der Bericht über Oesede wurde im Februar veröffentlicht.

 

Das sollte genug Zeit gewesen sein um herauszufinden, wer im Fall Oesede denn die Verantwortung für die im Oesede-Bericht so deutlich benannte „Vertuschung und Verschleppung“ qua Amt innehatte und jetzt auch übernehmen müsste.

 

 

 

Auf diese Frage habe ich eine deutliche und unmissverständliche Antwort von höchster Stelle im Landeskirchenamt bekommen.

 

Die Verantwortung qua Amt trägt der juristischen Vizepräsident des Landeskirchenamtes,  Dr. Rainer Mainusch.

 

 

 

Ein hochintelligenter Mann, promovierter Jurist, seit nunmehr 30 Jahren im Landeskirchenamt tätig. Auf dem Papier ist er das zwar nicht, doch ich halte ihn für die mächtigste Person in unserer Landeskirche.

 

 

 

2010 hat er, so steht es im Oesedebericht, den Fall an sich gezogen. Und dann ist nicht das geschehen, was hätte geschehen müssen. Sondern, wie es der Bericht benennt: Vertuschung und Verschleppung

 

 

 

Als sich die Betroffenen nach ihrer jahrelangen Odyssee durch die kirchlichen Flaschenhälse an den Landesbischof Ralf Meister gewandt haben, da hat er diesen Fall auch aus seiner Funktion heraus an Dr. Mainusch übertragen.

 

Das ist ein ganz normaler Vorgang und der Bischof ist im Normalfall nicht der Akteur für die Begleitung einzelner Fälle.

 

 

 

Doch viel Wut der Betroffenen richten sich im Oesedebericht gegen den Landesbischof. Dabei hat er korrekt gehandelt. Ihm wurde ein Fall vorgetragen und er hat ihn an die zuständige Stelle übertragen.

 

Die Betroffenen hatten aber Erwartungen an den Bischof, die in der Kirchenverfassung nicht explizit als Aufgabe des Bischofs genannt werden. Das hat er auch in Gesprächen mit den Betroffenen offen ausgesprochen. Aber der Wunsch und die Erwartungen nach Handeln des Bischofs waren da.

 

Einer der Betroffenen formulierte das so:

 

 

 

Aber auch als Bischof zu sehen, ich hab eine persönliche Verantwortung in einer Situation, dass ich Leiter einer Landeskirche bin, dass in der Öffentlichkeit es wichtig ist, dass diese zentralen Personen auch sich möglicherweise zu einem ganz konkreten Fall äußern, hinfahren, sprechen mit Betroffenen.“

 

 

 

Das hat der Bischof nicht im ausreichenden Maß getan. Er hat sich dafür entschuldigt. Ich zitiere aus seiner Stellungnahme:

 

Diese Entscheidung war keine dienstrechtliche Verfehlung, aber sie war unsensibel und falsch. Ich habe damit dazu beigetragen, dass Betroffene weiterhin nicht angemessen gehört wurden. Es war ein Fehler, betroffene Personen durch mein Büro an die damals zuständigen Personen verwiesen zu haben.“ 

 

 

 

Und jetzt?

 

Jetzt liegt viel offen auf dem Tisch. Die Berichte der Forumstudie und der Oesede-Bericht benennen klar was falsch gelaufen ist.

 

 

 

Was zur Zeit wirklich funktioniert, sind die Bemühungen um Prävention. Vor allem in den Gemeinden. Verpflichtende Schulungen für Haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter. Endlich ist die Fachstelle Prävention sexueller Gewalt personell aufgestockt worden, nachdem sie jahrelang der Ausstattung nach eher ein Feigenblatt war. Es passiert etwas, damit solche Fälle wie Oesede schnell erkannt werden und es nicht zu zweiten, dritten und noch mehr Betroffenen des gleichen Täters kommt.   

 

 

 

Was mir aber nicht ausreicht ist der Blick auf das gewesene Versagen der Leitungsebene. Und wenn man im Oesedebericht auch die Fußnoten liest, dann findet man den Satz: „Die Prüfung dienstrechtlicher Konsequenzen, wie ursprünglich vom Kirchenvorstand der König-Christus-Gemeinde in Oesede angeregt, war nicht Gegenstand der Beauftragung“.

 

 

 

Aber das braucht es. Das braucht es, wenn wir wirklich einen Kulturwandel in unserer Kirche und ihrer Leitungsebene erreichen wollen. Wenn Vertuschung und Verschleppung keinerlei Konsequenzen haben, warum sollte man denn dann ein solch bequemes Mittel aus der Hand legen?

 

 

 

Und es braucht einen Kulturwandel in der Frage, ob unsere Kirche nach rein juristischen oder nach ethischen Standards geleitet werden soll.

 

Und es ist die Frage, wie die Betroffenen zu einer Gerechtigkeit kommen. Anerkennungszahlungen reichen da nicht für aus. Und auch die Übernahme von Therapiekosten mögen richtig sein, aber ist das genug, dass die Betroffenen sagen können: Was nach so langer Zeit an Gerechtigkeit möglich war, ist geschehen?

 

 

 

Ich habe nachgefragt, ob ein Rücktritt des Bischofs, den Betroffenen etwas bringen würde. „Manchen vielleicht“ bekam ich als Antwort.

 

Und für den Bischof gehe ich davon aus, dass er verstanden hat. Und dass dieses Thema von ihm nun anders unter Beobachtung stehen wird.

 

Ein Rücktritt wäre vor allem eine Symbolhandlung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

 

Und als ich bei den Vorbereitungen für heute abend meine eigenen Begegnungen mit dem Themenkomplex durchging musste ich ja auch für mich selbst feststellen, dass ich nicht nach den heutigen Standards gehandelt habe.

 

Und als Pastor bin auch ich ein Teil des Systems innerhalb dessen Missbrauch geschah und eine Aufarbeitung jahrelang unterbunden wurde.

 

Braucht es die Symbolhandlung eines Rücktrittes, wie es nicht wenige fordern?

 

 

 

Braucht es disziplinarrechtliches Vorgehen gegen den juristischen Vizepräsidenten? Das zumindest würde ich mir wünschen. Denn Vertuschen und Verschleppen kenne ich von Herrn Mainusch auch aus anderen Konflikten.

 

Ich zitiere aus einer Mail von Herrn Mainusch an ein Gemeindemitglied: „Voraussetzung eines Gesprächs ist es für mich allerdings, dass Sie weder von der Tatsache des Gesprächs noch von seinem Inhalt öffentlich Gebrauch machen.“… …

 

Sie sind heute zu einem Gottesdienst gekommen. Aber bislang war das von mir nur ein Vortrag und keine Predigt.

 

 

 

Ich lese nocheinmal den Predigttext (Mt 25,35ff):

 

 

 

Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.

 

Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.

 

Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? oder durstig und haben dir zu trinken gegeben?

 

Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? oder nackt und haben dich gekleidet?

 

Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?

 

Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

 

Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!

 

Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben.

 

Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen, und ihr habt mich nicht besucht.

 

 

 

Ich glaube, es bedarf keinerlei weiterer Auslegung.

 

 

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.

 

 

 

Download: Abschlussbericht Oesede

 

Download: Abschlussbericht des Forschungsverbundes ForuM (PDF, 6 MB)
Download: Zusammenfassung der Ergebnisse des Forschungsverbundes ForuM (PDF, 413 KB)