Porajmos

die verdrängten Opfer der Vernichtungsmaschine

Porajmos - die Bezeichnung für den Holocaust in der Sprache der Roma.

 

Hunderttausende von ihnen wurden in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet. Aber als es nach dem Krieg um Entschädigungszahlungen ging, gab es keine Gruppierung unter den Verfolgten des NS-Regimes, die weniger anerkannt wurden.


1956 entschied der Bundesgerichtshof: bis zur Deportation nach Auschwitz-Birkenau sei die Verfolgung von den „asozialen Eigenschaften der Zigeuner“, nicht aber „rassenideologisch“ motiviert gewesen. Die Minderheit habe „auch schon früher Anlaß gegeben“, sie „besonderen Beschränkungen zu unterwerfen“.  Noch über den BGH hinaus ging das Oberlandesgericht München. 1961 bestritt es die Deportation selbst nach dem Auschwitz-Erlass als „aus Gründen der Rasse“ geschehen. „Zigeuner“ seien verfolgt worden, „weil sie ziel- und planlos umherzogen, sich über ihre Person nicht ausweisen konnten oder für Spione gehalten wurden“.

 

Mit anderen Worten: Die Nazis hätten schon eine nachvollziehbare Begründung gehabt für den Mord an hunderttausenden Zigeunern.

 

Und bis heute werden sie mindestens scheel angeschaut. 

"Kinder holt die Wäsche rein, die Zigeuner kommen" - das Vorurteil der "ziehenden Gauner" als Betrüger, Diebe und asoziale hat das Dritte Reich überdauert. Und gleichzeitig gibt es die romantisierende Vorstellung vom freien Leben auf der Straße: Lustig ist das Zigeunerleben, faria faria ho...

 

Die Kulturgottesdienste widmen in Kooperation mit den Stolpersteinen der Geschichte der Zigeuner einen Gottesdienst. Musikalisch begleitet mit Musik von Django Reinhardt, dem wohl bekanntesten Sinti-Musiker.

 

Pastor Florian Schwarz und Beate Ney-Janßen von den Stolpersteinen Rehburg-Loccum haben lange darüber diskutiert, welchen Begriff sie verwenden sollten. Darf man Zigeuner sagen? Oder doch das sich eingebürgerte Sinti und Roma - aber was ist dann mit den anderen Stämmen, wie den Kalderash oder den Jenischen?

"Fahrendes Volk" ist angesichts der großen Zahl der sesshaften Familien auch nicht ganz zutreffend. Oder doch von "Gyptern" sprechen.

 

Wie tief die Vorurteile gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe verwurzelt sind aber ist unübersehbar.

 

 

 

 

 

Predigt:

 

Liebe Gemeinde,

 

über wen reden wir?

 

Sinti, Roma, Gypter, Zigeuner, Fahrende, Jenische, Bohémiens, Slowaken, Gitanos, Gypsys,

 

Oder sprechen wir von Zigeunern?

 

 

 

 

 

Es gibt da eine andere Unsicherheit als beim Begriff Neger für Menschen mit einer dunklen Haut. Denn diese Bezeichnung wird von den damit Bezeichneten ganz klar und deutlich abgelehnt.

 

Und wenn es heute darum gehen würde, würde ich nach einer einmaligen Nennung nur noch vom N-Wort sprechen.

 

 

 

Bei Zigeuner aber ist es nicht so einfach. Das Z-Wort heißt es zwar analog zum N-Wort, aber persönlich kenne ich mehr Menschen, die damit gemeint sind und diese Bezeichnung für sich nicht ablehnen.

 

 

 

Sinti und Roma soll man wohl sagen. Aber das wäre so, als sollte ich als Synonym für Deutsche nur noch Bayern und Sachsen sagen. Denn Sinti und Roma sind nur zwei von vielen unterschiedlichen Stämmen und Gruppierungen. 

 

 

 

Die sprachliche Herleitung des Begriffs Zigeuner ist unsicher. Im 12. Jahrhundert gab es ein ähnlich klingendes Wort als Bezeichnung für Wahrsager und Schlangenbeschwörer. Andere vermuten die Herkunft des Wortes Zigeuner aus dem griechischen, Athinganen, wörtlich übersetzt die Abgesonderten. Ursprünglich war es aber die Bezeichnung einer gnostischen Sekte im 9 Jahrhundert im Gebiet der heutigen Türkei. Und noch weitere Herleitungen gibt es.

 

 

 

Wissenschaftlich redlich aber kann man sich nicht auf eine Herkunft des Wortes festlegen. Nur eines ist sicher: Es hat im Wortursprung nichts, aber auch gar nichts mit „ziehenden Gaunern“ zu tun.

 

 

 

Mir geht die Diskussion am Kern vorbei. Mehr als einmal wurde ich zurechtgewiesen, das hieße nicht Zigeuner, sondern Sinti und Roma…

 

Und die gleichen Menschen, die eben noch politisch korrekt auf die Wortwahl achteten,  haben es dann vehement abgelehnt, fahrendem Volk eine Wiese für einige Wochen zu Verfügung zu stellen, als ich sie darum fragte. Und dann ging das Geeiere los um eine fadenscheinige Begründung zu liefern, die den dahinterstehenden Rassismus verstecken sollte.

 

 

 

Denn in unseren Köpfen ist genau das fest verankert.

 

Es gibt wohl kaum eine Bevölkerungsgruppe in unserem Land, die mehr Vorurteilen unterworfen ist, als die Zigeuner.

 

 

 

Seit den 60er Jahren gibt es Umfragen in Deutschland zu ethnischen Minderheiten. Zigeuner sind die unbeliebteste ethnische Minderheit in unserem Land. Fast 60 % der Deutschen wollen keine von „denen“ als Nachbarn haben. Fast die Hälfte der Deutschen meint sicher zu wissen, dass diese Bevölkerungsgruppe zur Kriminalität neigt.

 

„Holt die Wäsche rein, die Zigeuner kommen…“ Zumindest die Älteren unter Ihnen werden diesen Satz noch kennen. Und dass die Jüngeren ihn nicht kennen, liegt daran, dass die Wäsche kaum noch draußen aufgehängt wird und nicht weil die Vorurteile dem fahrenden Volk gegenüber geringer geworden sind.

 

 

 

Fahrendes Volk – noch so ein Begriff. Dabei sind wohl die meisten von ihnen heutzutage sesshaft.

 

Aber für mich persönlich ist es diese Bezeichnung, mit der ich am meisten in Kontakt gekommen bin. Seit vielen Jahrzehnten ist die Circuswelt in meiner Familie von Bedeutung. Drei von vier Kindern meiner Eltern haben zumindest zeitweise beruflich im Circus gearbeitet. Und da reicht es, Reisende zu sein, um irgendwie als Zigeuner zu gelten.

 

Als ich in einem städtisch geförderten Jugendprojekt Seiltanz unterrichtete gab es dort eine Freiwillige, die davon erzählte, dass ihre Oma entsetzt sei, dass sie sich da ja mit Zigeunern abgeben würde.

 

So schnell wird man zum Zigeuner abgestempelt.

 

 

 

Die Tierrechtsorganisation PETA schlägt am liebsten auf den Circus ein. Circustiere, so PETA zufolge, würden am allermeisten leiden. PETA ist ein gewinnorientiertes Unternehmen und hat sehr schnell verstanden, dass man auf das fahrende Volk einschlagen kann, weil es kaum eine Lobby hat. Sind ja nur Zigeuner.

 

 

 

 

 

Liebe Gemeinde,

 

an dieser Stelle möchte ich einen Strich ziehen.

 

Geht es wirklich darum, was wir historisch oder etymologisch gesichert sagen können, oder sollten wir nicht vielmehr unsere Scheuklappen abnehmen und in den Spiegel schauen.

 

Seien sie ganz ehrlich zu sich selbst. Sind sie frei von Vorurteilen dieser Minderheit gegenüber?

 

Und wo kommen diese Vorurteile her?

 

 

 

Und dann gibt es ja noch die romantisierenden Vorstellungen.

 

„Lustig ist das Zigeunerleben faria faria ho“.

 

Und natürlich die glutäugige Zigeunerin, die Esmeralda aus dem Glöckner von Notre Dame – wobei in dem Roman dann auch gleich transportiert wird, dass die Zigeuner Kinder stehlen.

 

Oder der kleine Zigeunerjunge aus dem Schlager von Alexandra.

 

 

 

Es ist absurd, dieses Zusammenfallen von romantisierendem Zigeunerbild und dem knallharten Rassismus, den wir als solchen bei uns selbst noch nicht einmal wahrnehmen.

 

 

 

Es hat lange, sehr lange gedauert, bis die Zigeuner ein eigenes Mahnmal im Gedenken an die Ermordung ihrer Volksgruppe im dritten Reich bekamen.

 

1992 fanden die Bemühungen des Zentralverbandes der Sinti und Roma in der Politik Gehör. Aber bis ein Mahnmal umgesetzt wurde sollte es noch 20 Jahre dauern. Und wieder und wieder gab es Versuche das zu verhindern.

 

Hermann Arnold, der nach 1945 die rassenhygienischen Paradigmen der NS-„Zigeunerforschung“ weiterhin publizierte und von der Regierung Adenauer als Berater angestellt war, meldete sich 2004 zu Wort. Es gehe den „Zigeunern“ um Wiedergutmachung, die unangebracht sei, da sie gar nicht Opfer des NS-Rassismus gewesen seien.

 

Mit dieser Ansicht war Arnold nicht alleine. Keiner anderen Opfergruppe der Nazis wurde häufiger und systematischer Entschädigungszahlungen verweigert. Zigeuner seien überall auf der Welt eine marginalisierte Ethnie und deshalb keine besondere Opfergruppe der Nazis – so die Argumentation.

 

In den Konzentrationslagern wurden sie mit einem schwarzen Winkel markiert, der von den Nazis für sogenannte Asoziale verwendet wurde.

 

 

 

Und noch 1986 standen im Duden unter dem Stichwort Zigeuner als sachverwandte Wörter:  "Abschaum" oder auch "Vagabund".

 

 

 

Seien sie zu sich selbst ehrlich. Was würden sie davon halten, wenn sie erführen, dass im Nachbarhaus eine Roma-Familie einzieht. Welche Bilder haben sie da im Kopf. Welche Befürchtungen?

 

 

 

Der Antiziganismus ist nie aus unseren bundesdeutschen Köpfen verschwunden.

 

 

 

Und es ist auch völlig egal dabei, ob der konkrete Mensch schon seit Generationen sesshaft lebt und einem bürgerlichen Beruf nachgeht. Zigeuner bleibt Zigeuner. Daran kann kein Angehöriger dieser Volksgruppen etwas ändern. Das können nur wir, indem wir unsere Wahrnehmung ändern.

 

 

 

Aber wenn wir dieses eine Merkmal herauspicken, das längst nicht mehr für die Mehrheit der Lebensweisen steht, wenn wir das angebliche Charakteristikum des fahrenden Volkes nehmen, dann können wir auch die Bibel zur Hand nehmen. Denn die Geschichte des Volkes Gottes ist auch die Geschichte eines immer wieder heimatlosen Volkes.

 

 

 

Es beginnt mit Abraham: Geh aus deinem Land und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will. Mit diesen Worten beginnt die Geschichte Israels als Volk. Und auf diesen Abraham berufen sich Christen, Juden und Muslime als ihren Stammvater.

 

 

 

Abraham geht los, wie Gott ihm befohlen hat. Doch als er in das gelobte Land kommt, leben dort schon Menschen. Und Abraham wird nicht sesshaft. Und auch sein Sohn und seine Enkel nicht.

 

Die ziehen nach Ägypten. Und dort bleiben sie ein fremdes Volk unter den Ägyptern. Und als die ägyptische Mehrheitsbevölkerung beginnt, ihren Rassismus auszuleben, werden die Hebräer in Lager gesperrt und zu Fronarbeit gezwungen.

 

Nach dem Exodus zieht das Volk 40 Jahre lang ohne festen Wohnsitz durch den Nahen Osten. Und das erste, was ihnen nach dem Durchzug durchs rote Meer geschieht ist ein Angriff der Amalekiter. Ein Grund für diesen Angriff wird in der Bibel nicht genannt. Dort steht nur: Gen 17,8 Da kam Amalek und kämpfte gegen Israel in Refidim.

 

 

 

Liegt es so fern, sich vorzustellen, dass die Amalekiter kein fahrendes Volk in ihrem Land haben wollten?

 

 

 

Und als das Volk Israel im gelobten Land ankam, da wurden sie auch nicht mit offenen Armen empfangen. Eine friedliche Koexistenz schien nicht möglich und so ist die Geschichte der Besiedelung Kanaans eine blutige.

 

 

 

Als 587 vor Christi Geburt die Babylonier das Land eroberten, da wurde ein großer Teil der Bevölkerung deportiert und 40 Jahre lang lebten sie als Volk ohne Land an den Flüssen von Babylon.

 

 

 

Und auch in nachbiblischer Zeit ändert sich nichts: Als die Römer 70 nach Christus den Tempel zerstörten und das jüdische Volk in alle Welt verstreute, da war es wieder ein Volk ohne eigenes Land, dass doch über ihre Kultur und Riten immer erkennbar blieb.

 

Und wenn es einen Sündenbock brauchte, dann musste man nicht lange suchen.

 

Juden wie Zigeuner waren abgestempelt als: Das sind keine von uns.

 

Und das reicht.

 

Es gibt heute circa 12 Millionen Menschen in Europa die zu den Völkern gehören, die als Zigeuner bezeichnet werden. 12 Millionen! Das sind mehr als es Griechen gibt. Oder Portugiesen. Oder Tschechen, Es sind mehr als Ungarn, Schweden oder Österreicher.

 

Aber anders als das Volk Israel haben sie kein Land, das sie als Heimat bezeichnen können, auch wenn sie dort nicht leben.

 

 

 

Wissenschaftlich belegt gibt es diese Volksgruppe seit mindestens 600 Jahren in Europa. Auch wenn sich die Bezeichnungen änderten. Tataren werden sie in einer Urkunde aus dem Jahr 1407 genannt.

 

1423 stellte König Sigismund einen Schutzbrief für sie aus. Eine offizielle Erlaubnis im Land zu sein.

 

Doch nur 25 Jahre später wird der Schutzbrief widerrufen und Zigeuner für vogelfrei erklärt. Das bedeutete, das man einen Zigeuner totschlagen konnte und keinerlei Konsequenzen von staatlicher Seite zu befürchten hat. Und wenige Jahrzehnte danach wurden sie auf dem Reichstag zu Landau zu „Verrätern an den Christenlanden“, da sie Spione der Türken seien, und man verfügte ihre Ausweisung.

 

1770 erlässt König Friedrich  I. von Preußen ein „Geschärftes Edikt wegen derer Zigeuner“. Alle festgenommenen Frauen und Männer ab dem 16. Lebensjahr seien zu hängen.

 

148 Edikte gegen „Zigeuner“ wurden bis 1774 im Deutschen Reich erlassen.

 

Im Zuge der Aufklärung trat an Stelle der Verfolgung ein Besserungs- und Erziehungsgedanke. Mittels Einweisung in Zucht-  und Arbeitshäuser, oft verbunden mit dem Entzug der Kinder, sollten die „Zigeuner“ zu „nützlichen“ Untertanen umerzogen werden.“.

 

 

 

Und zur gleichen Zeit begann auch die Romantisierung des Zigeunerlebens.

 

Beginnend mit einer Szene in Goethes „Götz von Berlichingen“ betitelt:

 

„Nacht, im wilden Wald. Zigeunerlager“.

 

 

 

In Victor Hugos Roman der Glöckner von Notre Dame tritt dann die glutäugige Zigeunerfrau Esmeralda auf. Wunderschön und von edlem Charakter.

 

Gott sei Dank für die Bürgerlichen stellt sich am Ende heraus, dass sie doch keine Zigeunerin ist, sondern nur als Kind von Zigeunern entführt wurde. Der hässliche und zurückgebliebene Glöckner aber wird als gebürtiger Zigeuner erkannt.

 

Geistig zurückgeblieben und Kindesentführer blieben auch weiterhin gängige Vorurteile.

 

Aber eben auch das lustige Zigeunerleben, die glutäugige Schönheit, die den braven sesshaften Männern den Kopf verdreht. Die handlesende Großmutter, die auch verfluchen kann.

 

Die große Freiheit der Reisenden, die all den Zwängen der sesshaften Existenz nicht unterworfen sind.

 

 

 

Liebe Gemeinde,

 

was hat das alles in einem Gottesdienst zu suchen? Zigeuner sind doch kein Thema für die Kirche. Und nur weil es Parallelen zur Geschichte des Volkes Israels gibt, ist doch nicht genug um dafür einen Gottesdienst zu halten.

 

 

 

Und da möchte ich doch behaupten. Stimmt. Nicht Zigeuner sind das Thema, das einen Gottesdienst rechtfertigt. Sondern es ist unser Umgang mit diesem Volk, das einen Gottesdienst rechtfertigt.

 

Gegen Antisemitismus gehen wir Gott sei Dank auf die Straße. Aber würden sie auch zu einer Demo gegen Antiziganismus gehen?

 

Wir sind blind – fast alle von uns – wenn es diese Volksgruppe trifft. Wir haben immer noch all die stumpfen Stereotypen in unseren Köpfen. Wir stecken immer noch in diesem Widerspruch von Zigeunerromantik und Ausgrenzung.

 

 

 

Und genau da sind wir als Christen gefordert. In unseren eigenen Hirnen aufzuräumen mit all den Vorurteilen. Und diese gerade Linie von Ausgrenzung, die bis in die Konzentrationslager geführt hat und die bis heute nicht abgebrochen ist, zu beenden.

 

Und Menschen als das zu sehen, was sie sind. Menschen.

 

 

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen