Bei Hempels über´m Sofa

„Guten Tag, ich bin Ihr Pastor und hätte gerne das Bild, das über Ihrem Wohnzimmersofa hängt“.

Diesen Satz haben 30 Gemeindemitglieder gehört. Dreißig Bilder, die eines gemeinsam haben: Sie hängen bei Gemeindemitgliedern über´m Sofa.

Die Martinsgemeinde in Cuxhaven, in der wir diese Ausstellung durchgeführt haben, ist bunt und vielfältig. Viel bunter und vielfältiger als dies sich in den Gottesdiensten und Veranstaltungen zeigt. Die Ausstellungen und musikalischen Veranstaltungen sprechen nur einen Teil der Gemeindemitglieder an, weil sie sich an einem »kirchentypischen« Geschmack orientieren.

2000 Jahre gibt es die Kirche nun schon – und da vergisst man leicht, dass die altgeliebten Formen und Ausdrucksweisen nicht für alle ansprechend sind. Der »kirchentypische« Geschmack ist – so die Vermutung - nicht der Geschmack der Mehrheit der Gemeinde. Die Frage war, wie macht man diese Vielfalt begreifbar?

So entstand die Idee zur Ausstellung:

  • 30 zufällig aus dem Gemeindeverzeichnis ausgewählte Mitglieder.
  • 30 verschiedene Wege, dem Leben zu begegnen.
  • 30 verschiedene Geschmäcker.
  • 30 Bilder.   

Eigentlich sollte diese Ausstellung schon vor zwei Jahren durchgeführt werden. Aber der Weg bis zur Vernissage erwies sich schon fast als ein Kunstprojekt an sich. Der Kirchenvorstand begegnete dem Projekt äußerst skeptisch. Die Idee wurde kontrovers diskutiert und mehrmals vertagt. Eine schwere Geburt. Dabei kam immer wieder die Frage auf: „was ist Kunst, was ist Kunst, die in die Kirche darf, und was darf nicht in einer Kirche hängen?“.

Wir wussten nicht, was für Bilder kommen würden, aber die Diskussion um die Ausstellung war auch ein Ausdruck der Furcht, dass der eigene Geschmack vielleicht nicht repräsentativ für die Mehrheit der Kirchenmitglieder dieser Gemeinde sein könnte.

Während der Vorbereitungen für die Ausstellung verschob sich der Fokus. Der Aspekt einer Kunstausstellung rückte in den Hintergrund. Statt dessen zeigte sich, dass unsere kirchliche Arbeit im Ganzen zu hinterfragen ist.

 

1. In der Ausstellung wurden nicht die versprochenen 30 Bilder gezeigt, sondern nur die Hälfte.

Die Besitzer der anderen, fehlenden Hälfte wollten nichts mit Kirche zu tun haben und haben das sehr deutlich auch so ausgesprochen – wir haben wohlgemerkt nur Kirchenmitglieder (und damit auch Kirchensteuerzahlende) angesprochen. Über die Gründe dafür kann man nur spekulieren. Bei einigen vermute ich Angst vor einem Trickbetrüger, denn dass der Pastor „einfach so“ Kontakt sucht, erschien wohl als sehr unwahrscheinlich. Bei der Mehrheit aber schien Kirche schlichtweg nicht erwünscht. Warum sind diese Menschen dann Mitglied unserer Gemeinde, vor allem, wenn sie diese Mitgliedschaft auch noch Geld kostet?

 

2. Die Menschen, deren Bilder in der Ausstellung zu sehen waren, hatten fast ausschließlich keinen oder kaum Kontakt zu unserer (und damit zu ihrer) Gemeinde. Auf die Frage, wann sie das letzte Mal in der Kirche waren, war die Antwort oft Weihnachten oder eine Hochzeit im Bekanntenkreis. Das bedeutete aber nicht, dass Religion in ihrem Leben keine Rolle spielen würde. Die meisten Besuche dauerten lange und es ging um Gott und die Welt. Regelmäßiges Beten und festes Vertrauen darauf, dass Gott einen begleitet, geht – das zeigte sich deutlich – nicht unbedingt mit Gottesdienstbesuch oder Kontakt zur Ortsgemeinde einher.

 

3. Nach dem Zufallsprinzip hatten wir ausgesucht. Für einen Statistiker oder Soziologen ist das sicherlich keine repräsentative Auswahl, aber es hat sich gezeigt, dass unsere Gemeinde jünger ist, als sie bei einem Blick in den Sonntagsgottesdienst erscheint. Bei manchen Besuchen wurde festgestellt, dass ein prinzipielles Interesse besteht, aber in der jetzigen Lebenssituation keine Zeit für Kirche oder Gemeinde da ist. Weihnachten, Taufe, Hochzeiten, die Konfirmation der eigenen Kinder sind die Momente, in denen der Kontakt gepflegt wird. Bei dieser Gruppe stand außer Frage, dass der Kontakt zur Gemeinde in einer späteren Lebensphase wieder enger werden würde.

 

4. Das Angebot unserer Gemeinde erreicht seine Zielgruppe nicht. Die Gespräche waren spannend. Immer wieder sprudelten Geschichten, aber auch Ängste und Nöte hervor. Die Kernaufgabe von Pastoren, ein offenes Ohr zu haben für diese Ängste und Nöte, konnte ich dort wahrnehmen. Nur: ohne diese Ausstellung hätte ich die Geschichte dieser Menschen wohl erst anlässlich ihrer Beerdigung erfahren. Der Schritt auf den Pastor, auf die Gemeinde zu, scheint als schwer empfunden oder nicht in Betracht gezogen zu werden. Die Schwelle scheint hoch zu sein. Und vielleicht zeigt sich durch diese Ausstellung auch, dass die Schwelle nicht nur schambedingt ist, sondern auch etwas mit dem kulturellen Selbstverständnis der aktiven Gemeinde zu tun hat. Kirchengemeinden sind eine in sich geschlossene Gruppe und der Zugang ist nicht einfach. Was soll ich im Kirchenchor, wenn mein Musikgeschmack ein ganz anderer ist? Was soll ich als junger Mensch in einer Gemeinde, in der der sichtbare Teil der Gemeinde um Jahrzehnte älter ist als ich? Was soll ich mit einer Predigt anfangen, in der meine eigene Lebenswirklichkeit gar nicht vorkommt?

Auf Nachfrage von mir antworteten fast alle, dass sie unseren Gemeindebrief lesen. Aber das Angebot, auch das, was sie ansprechen würde und ihren explizit genannten Bedürfnissen entsprechen würde, wurde nicht als auch an sie gerichtet wahrgenommen.

 

5. Vor Gott sind alle gleich. Dass dieser Anspruch dazu führt, dass auch in der Gemeinde alle ihren Platz finden können, davon sind wir noch weit entfernt. Ein sturzbetrunkener Obdachloser im Heiligabendgottesdienst wird nicht als Bruder in Christo wahrgenommen, sondern als störend oder auch ekelerregend. Wer zu einer Gemeinde vorstoßen will, muss sich anpassen. An Sprache, an einen ungeschriebenen Verhaltenskodex und an einen Geschmack. Die diakonische Arbeit unserer Gemeinde ist nicht schlecht, wir bieten konkrete Hilfe in schwierigen Lebenssituationen, aber Menschen, die diesen Teil unserer Arbeit in Anspruch nehmen, tun dies als von außerhalb der Kerngemeinde kommend und finden darüber keinen Zugang oder gar Einlass in die Mitte der Gemeinde.

 

6. Die Besucher der Ausstellung hatten viel Spaß beim Betrachten der Bilder und beim Phantasieren, was das für Menschen sind, bei denen diese Bilder überm Sofa hängen. Kulturelle Vorurteile wurden ein bisschen durcheinandergewirbelt oder auch bestätigt. Unsere Gemeinden sind bunter als jedes Bild, das in dieser Ausstellung gezeigt wird.

 

„Bei Hempels überm Sofa“ hieß diese Ausstellung. Gerne hätte ich sie „Aus der Mitte unserer Gemeinde“ genannt. Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg. Ein Weg, der sich lohnt. Ich habe durch die Besuche tolle und spannende Menschen kennenlernen dürfen. Menschen, die – gerade in ihrer Verschiedenheit – eine große Bereicherung für unsere Gemeinde wären. Für die Bilder haben wir die Pforten der Martinskirche geöffnet. Es wird Zeit, dass wir auch den Menschen, bei denen diese Bilder über dem Sofa hängen, die Kirchentüren öffnen.

   

 Eine Auswahl der geliehenen Werke: